Freitag Abend lag ich im Bett und las auf Twitter über die Anschläge in Paris. Die Beschreibung der Anschläge als solche lösten zu dem Zeitpunkt eine unbestimmte Angst aus, deren Ursache Unwissenheit ist. Je deutlich das Bild, je klarer die Vorstellung und je umfassender das Verständnis, desto geringer die Angst.

Ich war entsetzt. Aus der Welt gerissen.

Es war nicht überraschend als solches. Es war nicht überraschend, denn wir wissen um die Strukturen, dass es theoretisch jeder sein könnte, weil man Psychopathen oder Terroristen nicht erkennt, deshalb der Wunsch nach umfangreicher Überwachung. Nur ist das „Jeder“ nicht festzumachen, jeder meint wirklich jeder, in einem abstrakten gesellschaftlichen Sinne, nicht in „jeder, der bestimmte Merkmale hat“. Ich kann den Wunsch, Gesellschaft kontrollieren zu wollen, nachvollziehen.

Und damit stehe ich vor einem Dilemma: jedem Menschen unvoreingenommen zu begegnen und gleichzeitig meinen Standpunkt und meine Interessen zu vertreten. Das ist das Wesen von humanistischer Befreiung und Emanzipation. Das ist das Wesen individueller Freiheit und Mitmenschlichkeit.

Ich bin sehr froh, dass es Twitter gibt und das Internet, jedem Einzelnen und jeder Einzelnen, die getötet wurden, können wir gedenken, ich bin froh über Journalismus und E-Books. Ich bin froh über meine Möglichkeiten mich zu informieren und zu bilden und ich bin froh über die Möglichkeit der Verbindung und Beziehung.

Das versetzt mich in die Welt zurück.

Die Menschen, die fliehen und zu uns kommen, stellen keine Gefahr dar, die Gefahr sind Dummheit und Machtmissbrauch.

Das ist Jetzt und hin und wieder drehe ich im Gedanken die Zeit zurück und versuche Vergangenheit und Gegenwart zusammenzubringen. Realität ist ein Spagat.

1976 war ich zehn, das Alter, in dem man normalerweise mit Ballett anfängt. Ich stand vor dem Fahndungsplakat der Terroristen in der Post in einem Sozialbaugebiet, das als Ghetto mit hohem Gewaltpotential in Hamburg galt. Gewalt war Alltag, im Umfeld direkt, kindlich, auch spielerisch, und vielleicht weniger subtil als woanders und das was vielleicht sogar ein Vorteil, und ich lernte über Medien Gewalt in der Welt der Erwachsenen kennen, die die Dinge scheinbar regeln. Ich wollte lernen zu verstehen, und dafür gab es nur zwei Wege: Lesen und die Verarbeitung von Bildern, also Bildung und Kunst. Der Körper wollte nur Bewegung als solche. Ballett fand in einer vollkommen anderen Welt statt.

Ich interessierte mich nicht für Politik und war doch Teil davon, ich interessierte mich mehr dafür, ob meine Tolle gut sitzt. Ich war dem Ballett vielleicht näher als ich dachte und doch vollkommen fern.

Heute sitze ich mit meinen Töchtern beim Abendbrot und sie wissen mehr über IS und Krieg und die Ereignisse als ich damals über den Terrorismus in Deutschland. Anschließend gehe ich nach oben und mache Pliés.

Der Terrorismus, an den wir gerade denken, findet scheinbar immer noch hauptsächlich woanders statt, wir kennen seine Formen und sie sind unvorstellbar grausam. Mit Paris ist seine Grausamkeit näher gerückt. Tatsächlich war sie eben vorher schon da und wir wissen nicht, wo sie sonst noch ist. Ich kann mich zwar informieren und versuchen zu verstehen, muss aber gleichzeitig mit meiner Ungewissheit leben und vor allem mein Leben unter der Berücksichtigung dieses Wissens weiterleben.

Ein friedliches Leben zu führen und Liebe als höchste Form meiner Menschlichkeit zu erleben ist eine meiner größten Herausforderungen, denn dieses Leben schließt Wut und Hingabe ein, Verständnis und Missachtung, das Denken des Undenkbaren.

Und damit ich das tun kann, muss ich tanzen. Ballett betäubt mich nicht, es klärt. Selbst wenn ich wie eine Zuckerfee im Walzerschritt in meinem Zimmer tanze, dann tanze ich zu Shostakovich im Versuch, die alten Fäden der Menschlichkeit aufzunehmen, in der Überzeugung, dass es gut für alle Menschen wäre und weiß, dass es Irrsinn ist.

Und ich weiß, dass heute Abend beim Training meine Wut wieder hochkocht, Wut über diese unfassbaren Formen von Macht und Geld und Waffenhandel und Gewalt und beruhigend nur in dem Wissen, dass man mit kriegerischen Mitteln den Terror nicht verhindert und meine Wut in der Bewegung des Balletts kanalisiert werden kann und es mich diszipliniert. Und das ist das Tolle, wofür ich dankbar bin: dass ich nicht darauf beschränkt bin, mit Überheblichkeit oder Ohnmacht zu reagieren. Wie gesagt: nicht darauf beschränkt, auch wenn ich mich mitunter überheblich oder ohnmächtig fühle.