Vor dem Training kommt der Leiter der Balletschule zu mir in den Umkeideraum und hält mir ein weißes Hemd hin, ob mir das passe. Ja, das Hemd passt. Fehlt noch die Hose, sagt er, und ich atme auf, weil er nicht Strumpfhose sagt. Er hat das Hemd als 30-Jähriger getragen, damals in den 70ern, erzählt er mit leuchtenden Augen.

Montag hatte ich also meine erste Pas de deux-Stunde. Das Schöne an Ballet war ja immer die Distanz, hier mal Gesten, da mal Mimik, aber sonst immer auf angenehme Distanz. Gut, der Raum der Intimsphäre hat sich verkleinert und man geht offen und ungehemmter miteinander um, aber ohne Körperkontakt. Das ändert sich beim Pas de deux schlagartig. Das zog mir den Boden unter den Füßen weg und meine Sicherheit, die ich mir so hart erarbeitet habe, war mit einem Mal dahin.

Ich will es aber richtig und gut machen, nicht tolpatschig und unbeholfen. Wieder zu Hause war also klar, dass ich Kraftraing brauche und zwar sofort. Ich holte die Hanteln aus dem Keller und befragte die Foren. Auf Reddit wurde ich fündig, man hebt die Hanteln mit zusammengehaltenen Ellenbogen vor dem Körper hoch und stemmt nach oben. Die Kraft kommt aus dem Becken- und Beinbereich, weniger aus den Armen. Allerdings brauchten meine Ärmchen deutlich mehr Kraft. Ich füllte einen Koffer mit Bildbänden und trug und stemmte ihn durch die Gegend, hob ihn auf die Schulter. Dreißig Kilo wiegt das Ding. Ich holte mir blaue Flecken an den Armen, sogar in der Handinnenfläche.

Ich ging die Bewegungen die ganze Woche durch, hörte mir die Musik in Dauerschleife an, prägte mir die Sequenzen und Momente ein, versuchte die Führung durchzugehen.

Heute ist die zweite Stunde und ich konzentriere mich vollkommen darauf, sicher und souverän und stabil und kraftvoll ohne viel Aufwand die Bewegung und Führung und Hebung auszuführen. Mein Puls wird wieder auf 180 sein, mein Körper wird wieder eine Dosis Oxytocin, Adrenalin, Dopamin, Endorphin und Serotonin durch mein Blut jagen. Aber auch das ist nur ein Lernschritt, so wie in meiner ersten Probestunde, wie mein erstes Mal in der gemeinsamen Umkleide, so sind wohl auch die ersten Male Pas des deux. Im Tanz sind solche Aufregungen nur Nebenerscheinungen, die vorüber gehen, sage ich mir.