Die Geschichte des Balletts ist etwa 300 Jahre alt, die des Modern Dance etwa 100. Seitdem ist viel passiert, Ballett und zeitgenössischer Tanz werden nicht mehr getrennt betrachtet. Ballett-Kompanien führen klassische Ballette genauso wie zeitgenössische Choreografien auf, Tänzerinnen und Tänzer lernen heute beides.
Entwicklung, das klingt so, als gäbe es einen Knäuel, den man entwirrt und am Ende hat man einen roten Faden. Tatsächlich handelt es sich, wie bei allen Entwicklungen, um Verzweigungen und parallele Vorgänge. Ähnliche Ideen entstehen zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten, Menschen tauschen sich aus, lassen sich inspirieren oder arbeiten strikt an einer Idee, die von anderen weitergeführt wird.
Wer heute einen Kurs zu Modern Dance oder Contemporary Dance besucht, wird mit einer Menge unterschiedlicher Stile und Techniken konfrontiert. Seine Offenheit macht seinen Reiz aus.
Entstanden ist der moderne Tanz im Laufe der kulturgeschichtlichen Moderne. Es wurde umgerempelt und neu entdeckt. Vor allem wollte man sich vom starr wirkenden, elitären Kanon des Balletts lösen. Lust und Leidenschaft Einzelner trieb die Entwicklung voran und im Laufe zunehmenden Austausches werden Stile und Techniken gemischt. Manche bilden eigene Systeme und Formensprachen, eigene Unterrichtsmethoden, die den Körper auf die Choreografien vorbereiteten. Man könnte dabei leicht die Orientierung verlieren, weshalb mir das Vaganova-Ballett immer sehr lieb war, ich brauchte eine klare Linie. Modern Dance fing ich mit den ersten Übungen von Martha Graham an. Ich ging chronologisch vor. Es hat zwei Jahre gedauert, bis ich mir ein ungefähres Bild vom Modern Dance machen konnte.
Da ich immer noch zu wenig Kenntnisse habe, um mir einen umfassenden Blick von außen zuzutrauen (und vielleicht ist das sogar nur über Jahre der Beschäftigung damit möglich), ich mich aber andererseits auch nicht ausschließlich mit nur einer Technik beschäftige, will ich versuchen, die Elemente zusammenzutragen, die zeitgenössischer Tanz für mich im Moment ausmachen. Sozusagen als ein für alles offener Schüler.
Zeitgenössische Musik
Musik hat sich verändert, elektronische Musik hat ein neues, sehr breites Feld und neue Genres geschaffen. So wie sich die Musik entwickelt hat, ist auch das Spektrum des Tanzes breiter geworden. Es macht einen enormen Unterschied, ob man zu einer Melodie oder einen Sound tanzt. Zeitgenössischer Tanz ist sehr umfangreich, von den Posen zu R’n’B-Songs bis hin zu Bewegungen zu Geräuschen und Klängen.
Eine Besonderheit des zeitgenössischen Tanzes liegt für mich darin, dass er ohne Musik auskommen kann. Bewegungen, Bewegungsmuster und komplexere Abläufe können unabhängig von Musik erarbeitet und betrachtet werden. Musik kann dabei nur noch untermalenden oder unterstützenden Charakter haben. Man kann einen ganz eigenen Rhythmus, unabhängige Formen entwickeln und der Tanz kann sich vollkommen befreien („All forms of art can stand alone.“).
Eine andere Besonderheit ist das Tanzen zu Songs. Der Gesang spielt eine wesentliche Rolle, wie man sich bewegt oder die Bewegung wahrnimmt. Im Lyrical orientiert sich die Bewegung sogar sehr deutlich am Gesang. Ebenso im Jazz-Dance (heute Modern Jazz oder seine modernen Ausläufer).
Das zeitgenössische Ballett verwendet meistens moderne Orchestermusik, die Musik ist im Ballett ein wesentliches Element des Gesamtkunstwerks, oft hat sie eine besondere kompositorische Größe (Beispiel 1, die Choreografie ist von Wayne McGregor, die Komposition von den White Stripes, wobei Wayne McGregor ein besonderes Bindeglied zwischen Ballet und zeitgenössischem Tanz ist Beispiel 2, weil er beide Elemente gleichwertig vereint Beispiel 3).
Tanz ist allgegenwärtig
So allgegenwärtig Musik ist, ist auch Tanz allgegenwärtig. Es wird immer irgendwo getanzt. Tanzen ist eine Reaktion des Körpers auf Musik.
Musik ist ein so weiter und freier Begriff geworden, dass auch jede rhythmische Körperbewegung als Tanz bezeichnet werden kann. Ich unterscheide den Begriff Tanz von der Pantomime, Gestik oder Mimik, indem Tanz eine Abfolge ist, eine einzelne Bewegung ist für mich noch kein Tanz, sie kann eine Figur oder eine Pose sein, aber ebenso wie eine Linie eine Verbindung zweier Punkte ist, ist Tanz die Verbindung zweier Momente, die Art und Weise, wie ich von einer Position in eine andere komme. Tanz ist Bewegung.
Betrachtet man Musik und Tanz heute, muss man die Begriffe erweitern auf Klang und Bewegung. In den letzten hundert Jahren ist aus Experimenten Alltagskultur geworden. Klang und Bewegung sind als Teil der Kultur allgegenwärtig, Sound- und Motiondesign sind selbstverständlicher Teil des Designs geworden, das nicht mehr nur greifbare Dinge oder Information umfasst.
Von der Bühne zum Video
Tanz als Kunstform wurde auf Bühnen aufgeführt. Mit dem Film konnte man Tanz auch in anderen Umgebungen zeigen. Mit der Größe des Raumes verändert sich immer auch der Tanz. Mit der Entstehung von DJs, Discos und Clubs und den Musikvideos wurde Tanz z.T. auf sehr kleinem Raum ausgeführt und mit geringer Distanz von Betrachtern und Tänzern. Kleine Bewegungen werden anders wahrgenommen. Manche Tänze werden ja geradzu unter einer gewissen Raumnot getanzt, z.B. im Volkstanz, Social Dance, im BreakDance.
Zeitgenössischer Tanz ist immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Raum, seine Größe ist ein Gestaltungsmerkmal. Zeitgenössischer Tanz kann auch mal mehr oder weniger auf der Stelle stattfinden.
Der Raum und seine Bedingungen trägt zur Veränderung des Tanzes bei.
Die Tanzstile
Ich will hier nur aufführen, welche Stile und Namen mir begegnet sind und die mein Interesse geweckt haben.
Isadora Duncan
Isadora Duncans Autobiografie habe ich zufällig in die Hände bekommen. Ich fand sie sehr spannend und interessant zu lesen. Vielleicht hat sie weniger den modernen Tanz beeinflusst als vielmehr das Ballett, einfach auch durch ihren Rückgriff auf das klassische Griechenland und die Musikauswahl.
Martha Graham
Martha Graham gilt als eine der wichtigsten Personen im Modern Dance. Sie entwickelte eine eigene Lehrmethode, die ich mir auf DVD besorgt habe. Ich probierte sie zu allererst aus, führte es aber nicht fort, weil die Unterrichtsmethode so gut wie gar nicht im zeitgenössischen Tanz verwendet wird.
Merce Cunningham
Ich habe mir manches von ihm angesehen und den Unterricht auf Youtube probiert. Die Merce Cunningham Trust führt seit seinem Tod die Technik und die Choreographien fort. Die Technik finde ich in Teilen oft im Unterricht wieder. Ein außergewöhnlicher Mensch mit einem ausgefeilten Unterrichtssystem. William Forsythes Herangehensweise schätze ich ähnlich ein.
Lester Horton
Über ihn weiß ich am wenigsten, wobei es eine wichtige Figur war, denn er hat neue Tanzkulturen aufgenommen, afroamerikanische und südamerikanische. Dementsprechend ist sein Stil eher jazzy und das ist nicht so mein Stil.
Ich würde Limon, Release Technik und Flying Low zusammenpacken. Es sind Techniken, die mit der Eigendynamik des Körpers arbeiten. Sicher sind es die interessantesten und sehr verbreitete Techniken. Das macht eigentlich auch zeitgenössischer Tanz für mich aus: die Frage, was ist das eigentlich für ein physisches Ding, dieser Körper? Wie können wir ihm bewusst begegnen? Ohad Naharins Gaga zähle ich mal als Weiterentwicklung dazu. Alles, was mit Floor Work und Improvisation und auch Contact Improvisation zu tun hat, bildet für mich die Basis von zeitgenössischem Tanz. Weich (im Sinne von unverkrampft), elegant, verletzungsfrei, zum Teil sehr akrobatisch.
Tricks, Turnen, Sport etc.
Es gibt einfach ein gewisses Bedürfnis nach akrobatisch beeindruckenden Figuren. So wie Ballet seine beinahe sportlichen Elemente hat, so hat sie zeitenössischer Tanz auch. Es gehört dazu, Grenzerfahrungen mit dem Körper zu machen und die eigenen Möglichkeiten Stück für Stück zu erweitern.
Eigentlich müsste man zeitgenössichen Tanz noch viel allgemeiner formulieren, und nicht so sehr auf Personen und Stile oder Techniken achten, weil er mit ganz allgemeinen physikalischen Qualitäten und Bildern und Bewegungen arbeitet. Deshalb ist Improvisation so wichtig.
Jede Person und jeder Stil hat so seinen Charakter und ihre Einflüsse findet man überall wieder. Es gibt so viele Zugänge und Möglichkeiten. Ein bisschen bedeutet zeitgenössischer Tanz auch, das Richtige für sich zu finden. Einen Weg zur Freiheit. Vor allem als leidenschaftlicher Amateur.
Foto: Last Work von Ohad Naharin und Batsheva Dance Theater.